Realabstraktion. Die Kunst des Absehens

Andreas Folkers

Specters of Marx

Graphen und Diagramme sind Abstraktionen. Mit ihnen sehen wir nicht die Wirklichkeit, wir sehen von ihr ab. Abstrahieren von abs-trahare heißt abziehen, entfernen und vor allem absehen. Durch dieses Absehen wird die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke gewissermaßen eingefaltet und auf einen allgemeinen Begriff, eine Zahl oder eben einen Graphen gebracht. Wir sind es daher gewohnt, die Abstraktion der Wirklichkeit bzw. der Realität gegenüberzustellen. Karl Marx hat die Einfachheit dieser Gegenüberstellung durch sein Konzept der Realabstraktion verkompliziert. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass unsere Arbeitsleistung im Kapitalismus nicht nur in abstrakten Quanta „wissenschaftlich“ gemessen oder dargestellt werden kann, sondern auch mit abstrakten Quanta – Geld – gekauft, werden kann. Die Provokation, die von Marx’ Konzept der Realabstraktion ausgeht, besteht darin, dass er nicht mehr die Wirklichkeit der Abstraktion gegenüberstellt, sondern zeigt, dass die Abstraktion im Kapitalismus wirklicher als die Wirklichkeit geworden ist. Die art(i)facts, die im Bild „Eine Künstlerin und fünf Künstler, welche monochrome Arbeiten produziert haben, im Ranking der Webseite www.artfacts.net im Zeitraum von sechs Jahren.“ thematisiert werden, sind gewiss eine seltsam-einfältige Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Kunst und dem Verhältnis von Künstlern untereinander. Aber sie sind der Realität des Kunstmarkts eben angemessen und beeinflussen diesen nachhaltig. Im übrigen steht das Bild und damit die Arbeitsleistung des Künstlers auch ganz real zum Verkauf. Auch wenn Marx Konzept der Realabstraktion bereits eine wichtige Korrektur der gewohnten Gegenüberstellung von Abstraktion und Wirklichkeit vornimmt, so setzt seine Kritik an der Inversion, dem quid pro quo von Abstraktion und Wirklichkeit letztlich die Stabilität dieser Unterscheidung noch voraus. Marx hat die Verkehrung der Wirklichkeit kritisiert, indem er unter dem spektakulären Schein des Warenmarkts und dessen Abstraktionen die Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufdeckte. Diese Wirklichkeit las Marx aber ausgerechnet den Statistiken, d.h. den Abstraktionen ab, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts massenhaft erstellt und veröffentlicht wurden. Marx war also selbst Spieler im Spiel der abstrakten Modernität, die er kritisieren und der er entkommen wollte.

Speculative Realism

Mit dem Diagramm ist die Sache mit der Abstraktion bzw. die Abstraktion von den Sachen sogar noch unheimlicher geworden. Graphen, Kurvenlandschaften, Diagramme verdichten nämlich nicht nur Daten und abstrahieren damit noch weiter von den ohnehin schon abstrakten Zahlenbergen, sondern machen sie zugleich auch auf eine ganz neue Weise anschaulich. Hatten die Zahlen noch von allen sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten der Sachverhalte abgesehen, so erzeugt der Graph aus den unsinnlichen Datenmengen eine neue sinnlich-übersinnliche Gestalt: eine Kurve, eine gezackte Linie, Balken, Parabeln etc. Diese sinnliche Qualität, die sich Maak in seiner Kunst zunutze macht, die er verarbeitet und ausstellt, ist zugleich auch das Einfallstor für die ideologischen Wirkungen der Graphen. Anders als eine Zahl stellt der Graph seine Abstraktion, sein Absehen also, nicht aus. Der Graph verbirgt die Abstraktion, indem er anschaulich wird. Er verschleiert seine Realität, indem er sich ausstellt. Man kann dem Graphen ganz unmittelbar etwas ansehen: Er hat eine Verlaufsbahn, eine Orientierung, eine Richtung. Dadurch schafft er Sinn, insofern jeder Sinn, die Etymologie und das französisch sense verraten es, immer ein Richtungs- und Orientierungssinn ist. Seine Achsen verlaufen symmetrisch zu einem intuitiven Koordinatensystem – oben und unten, rauf und runter –, das wir schon früh erlernen und das eine ganze Moral beinhaltet.
Als Bild gewordene Abstraktion und anschauliches Absehen ist der Graph zentraler Bestandteil des kapitalistischen Imaginären. Das heißt aber gerade nicht, dass es nur eine äußerliche Fassade einer ansonsten autonom operierenden Wirtschaftsordnung ist. Das Graphenimaginäre ist zugleich eine Infrastruktur des globalen Kapitalismus, es ist für das Funktionieren der Wirtschaftsprozesse ebenso notwendig. Graphen sind Teile eines kapitalistischen Realismus, der zugleich spektakulär und spektral und vor allem spekulativ ist. Es ist dieser spekulative Realismus des Kapitals, den Maak in Szene und mit dem er sich auseinander setzt. Dazu trägt er Graphen auf der Spiegelfolie auf, die ansonsten weltweit die Fassaden der Büro- und Bankentürme prägt. Die Spiegelfolie, die den modernen Finanzkapittialismus in einem ganz unmittelbaren Sinn undurchschaubar macht, und die Graphen, die hier ähnlich opak eingezeichnet sind, thematisieren zugleich die Schwierigkeit der Repräsentation eines immer abstrakter werdenden Kapitalismus. Weder Arbeiter in Fabriken, Kapitalisten in Frack und Zylinder, aber auch nicht mehr die bunte Welt des Konsums geben ein angemessenes Bild der Welt des Kapitalismus. Stattdessen das Weltbild des Kapitalismus auszustellen, scheint nicht der schlechteste Ausweg aus diesem künstlerischen und politischen Dilemma. Zumal dieses Weltbild dem Kapital nicht mehr äußerlich ist, sondern das Kapital mittlerweile einen „solchen Akkumulationsgrad erreicht hat, dass es Bild wird“ (Debord).

Transversal translations

Gleichzeitig geht Maak nicht dem von der modernen Finanztheorie ebenso wie von sog. postmodernen Philosophen genährten Mythos auf dem Leim, dass der Kapitalismus und das postmoderne Wissen heute zu einem vollkommen referenzlosen Spiel von Zeichen geworden sei. Vielmehr konfrontiert er die Graphenlandschaften zwar nicht mit ihrem Referenten, aber doch gewissermaßen mit ihrer Umwelt. Die Bilder der Serie natural rendering zeigen Graphen, die in ein ihnen fremdes Milieu implantiert werden. Betont wird die Materialität der Graphen dadurch, dass sie „wirklich“ in die Bäume, Büsche und Sträucher verpflanzt wurden. Mal durchkreuzt und zerschneidet ihre analytische Abstraktheit die Pflanzen wie eine Heckenschere, mal schmiegen sich die Graphen geradezu an die Äste, als wollten sie sich mit dem Baum in wilder Ehe verbinden und mit ihm zusammen weiterwuchern. Hervor tritt so die Wirkmächtigkeit der Graphen in einer Welt, die durch diese Abstraktionen nicht so sehr abgebildet oder abgeblendet, sondern vor allem auch verändert wird. Die Graphen stehen der Welt nicht gegenüber und legen sich nicht wie ein symbolischer Schleier über die Wirklichkeit, sondern intervenieren in sie und pfropfen sich ihr auf. Darin sind Graphen gerade nicht unwirklich, sondern sehr real. Ihre analytische Schärfe zersetzt, zergliedert und zerschneidet die Welt, ihre synthetische Kraft verbindet sich aber auch mit dieser.
Der Realitätsaustausch zwischen Graphen und Natur ist beidseitig. Während die Bilder Graphen zeigen, die in die Natur intervenieren, verweisen die Titel der Serie auf den ausgiebigen Transfer von Konzepten, Metaphoriken und Modellen aus der Natur bzw. den Naturwissenschaften in das ökonomische Weltbild und seine Graphen. Das gilt auch für die Bilder, bei denen Äste zu wild ausfransenden Graphen mutieren und das Koordinationsystem der Bürofassaden überwuchern. Deutlich wird der Gegensatz von euklidischer Geometrie, die einen Großteil unserer gebauten Umwelt ausmacht und der „fraktalen Geometrie der Natur“ (Mandelbrot). Die fraktale Geometrie führt vollkommen neue Konzepte wie Selbstähnlichkeit und Rauheit in die Mathematik ein und kann so die Regelmäßigkeiten in den scheinbar chaotischen Mustern der Natur errechnen. Spätestens seit der Finanzkrise werden Anregungen aus der fraktale Geometrie wieder verstärkt bei der Ausarbeitung von Finanzmarktmodellen berücksichtigt. Dadurch sollen allzu harmonische Konzepte der Natur, die so lange die Vorstellungswelt der Ökonomie beherrschten und Bankern falsche Sicherheiten vorspielten, korrigiert werden. Nicht mehr die harmonische Bewegung der Planeten, sondern die chaotischen Launen des Wetters sollen Vorbild für das Geschehen auf den Finanzmärkten sein. Die Natur wird dadurch zum Modell für Graphen, die versuchen, die Natur zu modellieren und dabei nicht umhinkönnen in sie zu intervenieren. Zwischen Abstraktem und Konkretem, zwischen Virtualität und Materialität (bzw. der Materialität des Virtuellen und der Virtualität der Materie) entstehen Echos, Rückkopplungen, Resonanzen.
Übersetzung und feedback, das sind auch die Themen der monochromen Serie, die den Kurzschluss der turbulenten Systeme Ökonomie, Kunst, Religion und Wetter thematisiert. Wetter und Kunst über das Wetter – Yves Kleins blauer Himmel – können durch mathematische und graphische Abstraktion in eine mit der Ökonomie kommensurable Sprache übersetzt werden. Gleichzeitig setzt sich die Ökonomie dadurch den Launen von Wetter und Künstlern aus – mit stets ungewissem Ausgang. Die ökonomischen Annahme, dass Märkte stets zum Gleichgewicht tendieren, ist schon deshalb nicht haltbar, weil sie immer in eine „allgemeine Ökonomie“ (Bataille) eingebettet sind, die sich fernab des Gleichgewichts bewegt. Das heißt nicht, dass die spekulative Ökonomie früher oder später auf den Boden der realen Verhältnisse zurückgeholt wird, sondern, dass in der Begegnung mit ihrem Außen den virtuellen Märkten eine zusätzliche Virulenz eingegeben wird, die sie in Schwingung versetzt

Displaced abstractness

Letztlich ist Maaks Beschäftigung mit den Graphen und Diagrammen keine Denunziation der Abstraktion. Nicht zuletzt ist es eine kritische Auseinandersetzung mit dem Medium seiner eigenen Kunst: der Fotografie und deren Realismus. Zwar erreicht die Fotografie eine Direktheit und Konkretion, die der diagrammatischen Graphie fremd ist. Gerade durch diese Direktheit ist sie aber auch trügerisch. Die Fotografie verleitet allzu leicht zum „fallacy of misplaced concreteness“ (Whitehead). Dem Philosophen Alfred North Whitehead zufolge haben wir uns in der Moderne fälschlicherweise daran gewöhnt, einzelne, diskrete Entitäten an einem konkreten Punkt in Raum und Zeit (Whitehead spricht von einfacher Lokalisierung) als den höchsten Ausdruck der Realität zu verstehen. Whitehead insistiert dagegen darauf, dass die Wirklichkeit in Wirklichkeit aus einer Sequenz von Ereignissen besteht, und deshalb Prozesse und nicht Dinge real sind. Gilles Deleuze und Felix Guattari, die ebenso Vertreter eines Prozessrealismus sind, nähern sich der Wirklichkeit einer Welt im Fluss mit den Konzepten der „abstrakten Maschine“ und dem „Diagramm“. Nicht zufällig wählen sie Begriffe, die an moderne Computertechnik und mathematisierte Formen des Weltzugangs denken lassen. Graphen, Diagramme, Computerprogramme, Simulationen etc. gehören zum Arsenal der „Phänomenotechniken“ (Bachlard), die eine andere Realität sichtbar machen können: Intensitäten, Frequenzen, Schwingungen, Vibrationen, Wellen. Eine andere Welt als die, die wir durch die Fotografie zu sehen bekommen – rauschend, erregend und bewegend. Die Nebeneinanderstellung von Fotografie und Graphen stellt zwei Modi der Sichtbarkeit in ihren Grenzen, Möglichkeiten und ihrer Wirksamkeit aus. Maaks Bilder sind eine Kunst des Hinsehens und des Absehens. Er bringt nicht die Realität hinter der Abstraktion zum Vorschein, sondern richtet unsere Sicht auf das Absehen und das fotografische Hinsehen selbst.